Süße, wohlbekannte Düfte
Theodor Mildner*
...streifen ahnungsvoll durchs Land! singt der schwäbische Dichter Eduard Mörike und spricht damit das aus, was jedem Parfümeur und jedem anderen, der in irgendeiner Form mit Duftstoffen zu tun hat, auf seine Weise bekannt ist. Eduard Mörike zählt zu jenen Romantikern des vorigen Jahrhunderts, die seit der Unruhe der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen bis zu der Zeit der rasch heranwachsenden Industrialisierung in den sogenannten Gründerjahren eine Epoche durchlebten, in der sich alle Sparten der Kunst in einer dem heutigen Menschen nur noch schwer verständlichen Weise präsentieren. Gemeinhin tritt in der Romantik, sowohl in Dichtung wie auch in Malerei und Plastik und in der Musik, jenes Unbewusste hervor, das gänzlich intuitiv eine Grenze zwischen bewusstem Denken und unbewusstem Empfinden zieht. Es ist besonders beachtenswert, dass solche romantischen Werke stets dann entstehen, wenn schwere materielle Erschütterungen auftreten - und fast noch mehr, wenn sie einen gewissen Höhepunkt überschritten haben. Das gilt auch für unsere hochtechnisierte Zeit, von der keineswegs gesagt sein soll, dass sie im Abklingen begriffen sei.
Einen Hauch jener Romantik verspürt auch in unseren Tagen beinahe jeder Mensch, je nach seiner ihm eigenen Empfindungssphäre. Schon allein der Wunsch nach einem, wenn auch noch so geringen, Geborgensein vor dem Stress und den alltäglichen Anforderungen, das geruhsame Genießen etwa des eigenen Gartens, die stille Freude an Blumen und Vögeln, kurzum, das Heraustreten aus dem nüchternen Denken und Überlegen, wie es Beruf und sonstige Verpflichtungen nun einmal fordern — das ist schon ein erster Hauch von Romantik.
Jeder empfindsame Mensch, der in einer solchen Stunde den Duft einer Blüte genießen kann, wird sich nicht fragen, woher dieser kommt (das kann der Botaniker sehr genau erklären), vielmehr wohin er geht. Mit anderen Worten: wie und wohin die Realität des Duftkörpers in die Irrealität der Flüchtigkeit entrinnt. Am meisten kann und wird diese Frage auftreten, wenn der Duftkompositeur nach einer gelungenen Kombination verschiedene Duftträger beobachtet, wie jene neue Duftquelle sich in einen absoluten Geruch auflöst; und der oder die Verbraucher(in) kann, in die gleiche Lage versetzt werden. Ein Hauch von Romantik entströmt jeder Blüte, jeder Duftkomposition, jedem Parfum.
Oft genügt bereits das geruhsame Genießen eines derartigen Parfums, um ein Ablenken vom Alltag zu erreichen. Dabei ist es zunächst unwesentlich, ob ein entweichender Duft nun eine beruhigende oder anregende Wirkung auslöst. Wichtig ist allein das Gelöstsein von jeder materiellen Belastung, von jedem erschwerenden Denken und Grübeln. Die Künstler jeder Romantik-Epoche wurden von jenem Duftempfinden erfasst, weshalb sie gewissermaßen außerhalb des Alltags lebten und wirkten, was nicht selten von anderen Mitmenschen verständnislos kritisiert wurde.
Eine solche markante Epoche war die Zeit in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts. Es wäre müßig, Namen zu nennen, da ja zahlreiche Künstler mit ihren Werken heute noch — und zum Teil heute schon wieder— in unserem Alltag stehen. Und doch sei aus der Vielzahl ein Maler herausgegriffen, der im Vergleich zu anderen keine allzu große Beachtung gefunden hat, der aber gerade
wegen seiner höchst eigenartigen Einfühlung in das Duftproblem eine nähere Betrachtung verdient: I.I. Grandville (Gérard), der von 1803 bis 1847, zumeist in Paris, lebte und seinem romantischen Empfinden in einer Sammlung von Zeichnungen, die er mit „Pilgerfahrt der Blumengeister“ bezeichnete, Ausdruck verliehen hat. Er war ein Zeitgenosse von Honoré Daumier (1808 bis 1879), der durch seine zeitkritischen Karikaturen ebenso wie Paul Gervani (1804 bis 1866) durch seine boshaften Karikaturen weithin bekannt war. Alle drei, auch Grandville, verkörperten die Romantik, jeder auf seine Art. Während Daumier seiner heiteren, mitteilsamen Jovialität halb so beliebt war, zeichnete sich Gervani durch eine besondere Anmut aus, die er seinen Gestalten mitgab, wobei er trotzdem stets ein nüchterner Realist blieb. Anders dagegen Grandville: Er ist der typisch Empfindsame, der es versteht, die menschlichen Schwächen fein pointiert darzustellen, seinen Gestalten je nach der Situation passende Tierköpfe aufsetzt und auf diese Weise zum Karikaturisten wird. Zugleich verankert er seine mystischen Gefühle in der „Pilgerfahrt der Blumengeister“. Er war auch dazu geschaffen, die Fabeln des Dichters Jean de Lafontaine (1621 bis 1695) zu illustrieren, wie ihm andererseits Charles Baudelaire (1821 bis 1867) vertraut war, der schon in seiner Jugend eine höchst pessimistische Lyrik vertrat. Grandville kannte bestimmt jene Verse aus den „Correspondances“:
„wie lange echo fern zusammen rauschen
in tiefer finsterer geselligkeit,
weit wie die nacht und wie die helligkeit
parfüme, farben, töne rede tauschen.
parfüme gibt es frisch wie kinderwangen,
süß wie hoboen, grün wie eine alm,
und andere, die verderbt und siegreich prangen
mit einem hauch von unbegrenzten dingen,
wie ambra, moschus und geweihter qualm,
die die verzückung unserer seelen singen.“
Er kannte gewiss auch die anderen, die Baudelaire in seine Sammlung
„Die Blumen des Bösen eingereiht hatte:
„du wandelst über tote, schönheit, lachst sie aus,
den schrecken hast du dir zum schönsten schmuck erwählt,
behängst als liebsten zierrat dich mit mord und graus,
der protzig gleißend uns von deinem stolz erzählt.
du bist der augenblick, der wehend uns verfliegt,
die flamme bist du, wie sie knistert und verblasst.
der mann, der brünstig schönen frauenleib umschmiegt,
ist gleich dem sterbenden, der's eigene grab umfasst.“
(in der Übersetzung von Stefan George)
Es mag seltsam erscheinen, dass der Karikaturist Grandville zugleich an diesen weltverneinenden Versen Gefallen finden konnte. Doch er war der philosophierende Geist, der sich der Zeichnung bedient, um seinem lyrischen Traum Ausdruck zu verleihen.
Ohne auf andere Zeitgenossen einzugehen, wie etwa René de Chateaubriand (1768 bis 1848), von dem man sagt, er trage die Fackel der Romantik und sei der Homer der Melancholie, mögen die obigen Verse von Baudelaire und der Hinweis auf Daumier und Gervani genügen, um den Begleiter auf der „Pilgerfahrt der Blumengeister“ zu verstehen. Hier paaren sich die feinfühligen Frauengestalten, die, dem botanischen Charakter der einzelnen Blüten angepasst, deren Geist, sprich Duft, ebenso gerecht werden, wie die Darstellungen ein nicht minder graziös verstecktes Lächeln durchblicken lassen.
...das Ewigweibliche zieht uns hinan...
In der Tat besitzt alles Weibliche, einerlei ob Mensch oder Tier, das Primäre, wenn es um die Erfüllung der naturnotwendigen Aufgabe der Erhaltung von Rasse und Familie geht. Selbst in den Blüten ist jene Kraft verborgen, jener...Duft, der zum Beispiel die Schmetterlingsmännchen von weit her anlockt, wenn die Bienen von Blüte zu Blüte, vordergründig zum Einheimsen ihres Winterfutters, hintergründig zur Bestäubung der besuchten Blüten, fliegen. Nicht anders, wenn die Frau auf ihre Weise alles daransetzt, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen. Neben den reinen Äußerlichkeiten, wie Gestalt und Gehabe, sind es die erogenen Gerüche der Haut, der Haare und verschiedener Drüsen, die die Frau zu dem greifen lassen, was (allerdings ihr auch nur bedingt bekannt) in den meisten Blütenölen enthalten ist, nämlich zu einem Duft mit erogenen Riechstoffen, vorweg dem Indol, der Phenylessigsäure, den Cinnamaten, dem Farnesol und anderen mehr. Diese sind teilweise im Geißblatt gebunden und erzeugen jenen schwülen Duft, der letztendlich sowohl der Blüte selbst (den Insekten gegenüber) als auch der menschlichen Absicht dienlich ist. Es soll hier nicht unsere Aufgabe sein, die chemischen Stoffe in bezug auf ihre Eigenart und Wirkung zu betrachten; das ist nach Jellinek* noch nicht abgeschlossen. Dagegen gilt das Wort des
gleichen Verfassers:
„Die Tatsache, dass der prachtvolle, charaktervolle, ungemein schwül wirkende Geißblattduft in der Parfümerie verhältnismäßig wenig Verwendung findet, ist nur darauf zurückzuführen, dass der Parfümeur weder ein natürliches Blütenöl noch ein dem Duft der Blüte auch nur annäherndes Kunstprodukt zur Hand hat.“
Und trotzdem... hat schon vor mehr als einhundert Jahren der feinfühlende Karikaturist I.I. Grandville wohl ganz und gar im Unterbewussten den „prachtvollen, charaktervollen und ungemein schwül wirkenden Duft“ —wie viele andere vor und nach ihm erkannt und gerade deswegen zum Motiv einer Darstellung benutzt.
* Jellinek, Paul, „Die psychologischen Grundlagen der Parfümerie“, Dr. Alfred Hüthig Verlag, Heidelberg 1951
Wie verlockend reicht die von Geißblattranken umgebene Jungfrau oder junge Frau dem Geißbock die Raute hin! Klingt das nicht an das bekannte Ereignis an – das man auffassen kann, wie man geneigt ist -, wonach Eva dem Adam den Apfel bietet? Wie hat der mystisch veranlagte Grandville die Jungfrau treppaufwärts zu gehen sich anschicken lassen. Hier zeigt sich die verspielte Schilderung des sterbenden Rokoko Hand-in Hand mit dem gleichsam bald überlebten Klassizismus hin zu dem nicht minder bald entarteten Jugendstil. Es liegt in der Tat ein Hauch von Schwüle über dem Ganzen, die selbst den gierigen Geißbock in ihren Bann gezogen hat. Ohne es zu hören, schweben die Worte des Romantikers Eduard Mörike mit:
„Oh, wie schmacht' ich hinauf zu den duftiger'n Lippen, wie dürstet
nach des gebogenen Arms schimmernder Weiße mein Mund!“
Was sich wohl Grandville gedacht haben mag, als er sich für die Personifizierung des Jasmins, der von verschiedenen Forschern (Hesse, Müller, Soden, Jellinek u.a.) als besonders indolhaltig bezeichnet wird, diese zwei Frauen wählte? Allein im Hinblick auf das genannte Indol „spielt der Jasminduft in der modernen Parfümerie wohl die wichtigste Rolle“ (Jellinek). Der Verdacht liegt nahe, dass der Romantiker Grandville die lesbische Liebe verkörpert sehen wollte. Mit welch gefühlvoller Miene salbt die große, ganz von Jasminblättern und -blüten umgebene Gestalt den geduldig hingehaltenen Kopf der jüngeren, sitzenden Person. Wer hier nur das offensichtlich vordergründig erkennbare „Kopfwaschen“ sehen will, der kann sich nur schwer in eine dahinter verborgene Idee versenken.
Wenn dem wirklich so ist, dann müsste die Frau mit der altgriechischen Dichterin Sappho identisch sein. Sappho, im siebten Jahrhundert v. Chr. auf der Insel Lesbos geboren, die in ihrem Leben vielerlei erlebt und erfahren hatte, war alles andere als eine Lesbierin im heutigen Sinne. Im Gegenteil, sie war eine Dichterin, deren Verse in ihrer sprachlichen Schönheit noch ihre körperlichen Reize bei weitem übertrafen; anders als der zeitgenössische Dichter Alkaios, der, herb und polternd, ein Feuerkopf war und Poesie und Politik durcheinander brachte — der musste vor Sappho verstummen. Er trat zuerst zornig gegen sie auf, doch dann verehrte er sie. Wie hoch Sapphos Lieder geschätzt wurden, geht aus einem Wort des weisen Solon hervor: „Ein Lied von der Sappho lernen und sterben!“ Und Platon meinte:
„Zu Unrecht zählen die Dichter neun Musen; die zehnte
nur Sappho sei; sie singt wie eine der Musen nur sang!“
Es ließen sich noch mehr gleich gute Äußerungen anschließen, doch die zwei mögen genügen.
Wie kommt nun jene Frau in den Verdacht, der zuvor angedeutet war? Wie die Geschichte ihres Lebens sie schildert, ist sie keineswegs abartig gewesen. Im Gegenteil, nachdem sie vor dem Tyrannen Pittakos eines versuchten Aufstandes wegen, dem sie sich angeschlossen hatte, fliehen musste, heiratete sie in der Verbannung auf der Insel Sizilien einen reichen Kaufmann aus Akidros, der kurze Zeit darauf starb. Sappho war nun eine reiche Erbin. Sie gründete eine Schule für junge Mädchen, die sie Dichtkunst, Musik und Tanz lehrte. Später verlegte sie ihren Wohnsitz samt Schule wieder auf die Insel Lesbos. Das war die erste Schule der Geschichte, in der heranwachsende junge Mädchen den ersten und letzten Schliff bekamen. Sappho ging ganz in der selbst gestellten Aufgabe auf. Unter ihren Schülerinnen war ihr ein Mädchen besonders zugetan. Sie widmete ihm diese Verse:
„Mir gehört ein holdes Geschöpf; einer golden
Schimmernden Blüte
Gleicht sie an Bildung; Kleis heißt die Geliebte.
Um ihrerwillen
Gäbe ich das ganze Lydien hin und die
Insel Lesbos!“
Sie nannte ihre Schülerinnen „Genossinnen“, was im Altgriechischen „hetairai“ heißt, woraus dann später das Wort „Hetären“ wurde.
Doch die junge Athis, so hieß die Begünstigte, verliebte sich in einen Jüngling, und Sappho war um den Verlust sehr betrübt— um so mehr, als die Eltern das Kind zurückholten. Sappho schrieb:
...Tränen im Auge ließ sie mich hier zurück,
Sagte mir manches und sprach das Wort:
'Wehe über unser Geschick!
Sappho, glaube mir, ungern nur scheid' ich von dir!'
Von Sapphos weiterem Lebensweg ist nicht allzuviel bekannt. Nur das: Ein abgewiesener jüngerer Mann habe sie als eine Kokotte verschrien, was möglicherweise dazu beigetragen hat, dass die Insel Lesbos auf diesem Umweg zur Bezeichnung bestimmter Frauen geführt hat.
Doch zurück zu dem schwülheissen Jasminduft und zu dem Bild des französischen Malers Grandville. Sollte ihm nicht jenes Verhältnis von Lehrerin zu Schülerin, von Sappho zu Athis, bekannt gewesen sein? Sollte der Romantiker im Geruch des Jasmin etwa die fürsorgliche Liebe nachempfunden haben?
Aus Thespiae soll er gekommen sein …
erzählt der römische Dichter Ovid in seinen „Metamorphosen“ von einem sehr schönen Jüngling, den die Sehnsucht nach einer unerreichbaren Frau namens „Echo“ in den Tod treibt. Wohl wird er von den Göttern in eine Blume verwandelt, deren Duft ihn zuvor betört hatte. Narkissos nennt ihn
auch der römisch-griechische Dichter Pausanias, und nach ihm wird fälschlicherweise die geradezu narkotisierend duftende Narcissus jonquilla et poetica oft benannt.
Doch diese poetische Darstellung erfährt schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert eine deutliche Absage. Kein Geringerer als Plinius Secundus d.Ält., der, wenngleich Admiral der kaiserlichen Flotte, ein eifriger Naturforscher war, gelangt in seiner siebenunddreißigbändigen Historia naturalis (Lib. XXI, cap. VXXV) zu einer recht nüchternen Nomenklatur des Pflanzennamens. Er bezeichnet die aus dem Persischen stammende „Nargia“ mit dem ins Griechische ab- gewandelten Namen Narke, was schwül und betäubend bedeutet. Am Rande sei vermerkt, dass das Wort Narkose vom gleichen Wortstamm abgeleitet ist.
Doch zurück zu der fast aufdringlich duftenden Narzisse, deren Geruch von Jellinek zu „fäkalartig und urinös“ gesteigert wird. Das wird den Inhaltsstoffen Benzoesäuremethylester, Zimtsäuremethylester, Anthranilsäuremethylester, Benzylacetat und Linalool zugeschrieben.
Ohne auf die Fragen einzugehen, die den Parfümeur in erster Linie zu jenem Duft interessieren, sei ein Blick auf die Darstellung geworfen, die Grandville in seinen „Blumengeistern“ gibt. Hier ist nichts von jenem aus Sehnsucht vergehenden Jüngling zu sehen; es sei denn, der kleine schwarze Molch, der sich zu der Blütenfrau erhebt, könnte an die Sage erinnern.
Die alle schwül-narkotisierenden Blütendüfte anderer Pflanzen überragende dumpfe Wirkung lässt Grandville gewiss aus dem sumpfigen Gewässer erstehen. Die sich zurückhaltende Frau, gekrönt mit einer Narzissenblüte, achtet genau darauf, was zu ihren Füßen geschieht. Das Käferchen verfällt dem von der Höhe herabströmenden Duft ebenso wie der Molch, dessen bittende Gebärde deutlich genug die Sehnsucht ausdrückt. Wollte der Karikaturist — als den man Grandville einschätzen muss — mit diesen beiden Tieren doch in etwa einen Vergleich mit jenem Jüngling von einst vorstellen?
Sei es, wie es sei, eins lässt sich jedenfalls leicht erkennen: die ständige Hoffnung auf Erfüllung, auf eine Antwort des „Echos“. Einerlei, ob es die Sehnsucht nach Liebe oder die Erwartung eines materiellen Erfolges ist: Immer ist der Abstand zu dem „Echo“ erfüllt von jenem — um nun ganz mit dem Dichter und Romantiker zu sprechen — schweren, betäubenden Duft der Narzisse.
Jeder von uns hat schon einmal die überragende Gestalt der Erfüllung besonderer Wünsche erstrebt, doch oft bleibt er im sumpfigen Gewässer des Alltags stecken, oder er wandelt, ähnlich jener kleinen Käfergestalt, in einer gewissen Gelöstheit von den Mühen leichtfertig dem „Echo“ entgegen. Irgendwie kann wohl das Ziel erreicht werden, aber immer müssen der betäubende, oft lähmende Duft, die Schwierigkeiten des Lebens ebenso wie die gefährliche „Narkose“ des Erfolges in Kauf genommen und überwunden werden. Und so gesehen hat Grandville keineswegs eine verächtlich-spöttische Figuration geschaffen.
Die Lilien geben den Geruch...
und über unserer Tür sind allerlei edle Früchte..., so lautet die Einladung der Freundin im „Hohen Lied“ (7,14) zum Betreten ihres Hauses. Ohne nun eine biblische Exegese betreiben zu wollen, sei gesagt, dass das vorletzte Kapitel in jenem, wohl dem König Salomo zugeschriebenen Liebesgedicht Wort für Wort die Einladung einer Jungfrau an einen Freund darstellt. Warum nun gerade der Duft der Lilie betont wird, wo doch gemeinhin die „Weiße Lilie“ Keuschheit und Zurückhaltung verkörpern soll und sie in diesem Sinne in Verbindung mit der Reinheit in die christliche Kirche übernommen wurde?
Der rein schwülwirkende Duft der Lilium candidum lässt sich nur schwer mit der Personifizierung jungfräulicher Reinheit in Einklang bringen. Gerade dieser Widerspruch weist den Weg zu einem psychosomatischen Problem. Während die weiße Farbe als das Signum jeglicher Unbekümmertheit und Unschuld gilt, fordert der eben erwähnte aphrodisierende Duft die im geheimen schlummernde Sinnlichkeit heraus. Wäre dem nicht so, dann hätten gewiss andere weiße Blüten, in denen das zuvor des öfteren erwähnte Indol mit seinen Begleitstoffen, wie Farnesol, den Estern der Zimtsäure und anderen, nicht vorherrschen oder ganz fehlen, die gleichen, womöglich bessere Dienste tun können.
Hier aber bei der Lilie müssen wohl noch andere Überlegungen mitgewirkt haben. Die Zeichnung von Grandville, der in seiner romantisch-sarkastischen Einstellung bestimmt nicht an jene Bibelstelle gedacht hat, drückt deutlich genug den Dualismus von Körper und Seele aus. Wie erhaben wirkt das schmale, gepflegte Gesicht der nicht minder unnahbar wirkenden Frauengestalt. Der jungfräuliche Schleier, der den Kopf umhüllt, nein, nicht umhüllt, sondern von einem zarten Windhauch beiseite geweht wird, zeigt auf seine Weise, wie leicht der sinnliche Duft der Lilie (um beim Gesagten zu bleiben), einem Windhauch gleich, die dünne Hülle der Keuschheit weichen lässt. Da nützt auch nicht der hochaufstrebende Lilienstengel, der einer verständlichen Abwehr gleicht, und dessen Blütenblätter schützend die ganze Gestalt einhüllen, da nützt auch nicht das königliche Lilienwappen der Bourbonen, das deutlich am Rock zu sehen ist und die Erhabenheit betont; das alles nützt nicht, um eine schlummernde Sehnsucht zu liebevoller Erfüllung zu wecken. Dazu bedarf es nur jenes kleinen schwarzen Käfers, der gravitätisch auf zwei Beinen heran-stolziert.
Passt eigentlich ein solch romantisches Bild in unsere so hektische Zeit? In Eile betrachtet, wohl kaum, doch bei ruhigem Beschauen verliert selbst eine voreilig geäußerte Ablehnung der damaligen Zeichenmanier, die der heutigen Kunstauffassung nicht mehr entspricht, an Kraft.
Wenn du eine Rose schaust...
...sag', ich lass sie grüßen! singt Heinrich Heine in einem Frühlingslied. Mag das auch nicht ganz zeitgerecht sein — denn im ersten Frühling blühen bekanntlich noch keine (Freiland-)Rosen, so geht doch der Ton des Beglücktseins durch die wenigen Verse und erreicht in jenem Grußwunsch seinen Höhepunkt. Wen hätte nicht schon einmal eine Knospe und noch mehr eine im Aufblühen begriffene Rose erfreut? Unter den unendlich vielen Blüten, die die Natur vom Frühling bis zum Herbst bietet, nimmt die Rose mitsamt ihren zumeist unbeachteten Geschwistern gewiss einen ersten Platz ein. Sie gehört zu den ältesten bekannten Duftpflanzen und wurde bereits im Altertum auf die verschiedenste Weise auch zu Heilzwecken benutzt. Es sei uns erlassen, auf die Gewinnungsmöglichkeiten des ätherischen Rosenöls (Destillation, Mazeration u.a.) einzugehen. Hier steht die Darstellung von Grandville im Vordergrund und mit ihr die Frage nach seiner romantischen Einstellung zu jenem neben Jasmin wohl stärksten Blütenduft.
Fast erscheint es respektlos, vor einer solch dominierenden Frauengestalt, wie Grandville sie vorstellt, von nüchternen Parfümeurserfahrungen zu sprechen. Da die Duftstoffe der Rosa damascena oder centifolia zahlreich sind, ist nur die Komplexwirkung einer besonderen Beachtung würdig. Ihre Ausstrahlung ist so weitreichend, dass — wie Grandville es zeigt — zahlreiche Verehrer, Begehrer in den Käferchen herankommen, aber von ebenso vielen Blättern, einem Wall gleich, zurückgehalten werden. Einer Königin in Haltung, Kleidung mit Krone und Zepter ähnlich, hat sie gar keinen Blick für das „Volk“ unter sich. Zur Bekräftigung ihrer Persönlichkeit ist dahinter das Namensschild „Rosa centifolia“ aufgestellt. Ihre Unnahbarkeit wird zusätzlich noch durch die Dornen unterstrichen. Und trotzdem — welch ein Widerspruch! — dehnt sich ein Netz über ihr aus, obwohl keine Spinne sichtbar ist. Will der Karikaturist etwa damit sagen, dass sie sowohl als Königin wie auch als Frau ihr „Netz“ ausgespannt hat?
Gleich dem Duft der intensiven und zarten Blüte hat Grandville mit wenigen Strichen den in jeder Beziehung jungfräulichen Reiz und das Geheimnis einer Frauenseele wiedergegeben. Der Strauch im Hintergrund schaut mit seinen Knospen und zum Teil aufgeblühten Rosen beinahe neidisch herüber; denn Missgunst und andere negative Eigenschaften sind nun einmal jeder (Frauen-)Seele eigen. Trotzdem schlingt sich um alle eine schmale Wurzel, als solle angedeutet werden, dass die Königin, die Rosa damascena oder centifolia, und die Rosa canina letzten Endes einer Familie angehören. Vielerlei ließe sich noch der Zeichnung entnehmen, doch es mag genügen und in einem Dichterwort zusammengefasst sein:
„Ehret die Frauen, sie flechten und weben
Himmlische Rosen ins irdische Leben!“
Kennst du das Land...
wo... im dunklen Laub die Gold-Orangen glüh'n? lässt Goethe ein Lied in. seinem Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ beginnen. Wie kann man das mit Grandvilles Zeichnung der Orangenblüte in Verbindung bringen? Realistisch gesehen, wohl kaum; denn der „Liebling“(franz.: mignon) klingt in keiner Weise mit den Blüten von Citrus aurantium zusammen. Lediglich der Duft spannt eine Brücke zu zwei anderen starken Blütendüften, Rose und Jasmin. Alle drei vermögen eine betonte Erogenwirkung auszulösen. Herrscht in der einen das Indol, in der anderen das Linalool und der Phenyläthyläther (um nur diese zu nennen) vor, so sind es in der Orangenblüte noch eine Reihe weiterer Komponenten, die den ihr eigenen Duft erzeugen.
Grandville, der Zeichner und Romantiker, besaß — selbstverständlich, ohne die geringste Ahnung von den später isolierten Wirkstoffen zu besitzen — ein bewunderungswürdiges Einfühlungsvermögen. Vielleicht war ihm Goethes Roman bekannt, vielleicht auch nur das Lied, von dem Goethe schreibt:
„...Er (Wilhelm Meister) glaubte anfänglich, der Harfenspieler sei schon wieder zugegen; allein, er unterschied bald die Töne einer Zither und die Stimme, welche zu singen anfing, es war Mignons Stimme. Das Kind trat heran und sang das Lied, das wir soeben aufgezeichnet haben.“
Warum so weit ausholen, um das vorliegende Blatt „Orangenblüte“ zu verstehen? Recht einfach. Bei Goethe steht Mignon, das Mädchen, wohl kaum zu viel gesagt, die Jungfrau, zaghaft vor der Türe, tritt ein und singt: „Kennst du das Land ...“ ... und zaghaft steht sie auch in Grandvilles Zeichnung, von Citrus aurantium-Zweigen mit Blüten umrankt. Ebenso ist die Haltung erwartungsvoll, wobei schwer zu definieren ist, was Grandville mit der Holzwand dahinter ausdrücken will.
Auch in der „Orangenblüten-Jungfrau“ liegen jene geheimnisvollen Kräfte verborgen, die — einmal ins Reale übertragen — von den Parfümeuren mit erogen, narkotisch und stimulierend angegeben werden.
Ob nun die beiden flügelartig angebrachten, übermäßig großen Blätter den gleichen Engelcharakter verkörpern, den Goethe dem zierlichen Mignon-Mädchen zulegt, muss wohl unbeantwortet bleiben. Selbst wenn es so wäre, dann könnte das nur jenes Mädchen sein, das den Harfenspieler begleitet, diesen engelgleich beschützt und der „...sein Kind immer fester in den Armen haltend, des reinsten unbeschreiblichen Glückes genoss“.
Diese, heute in solcher Form kaum noch zu begreifende Romantik umfasst die Empfindungen weiter Kreise jener Epoche. Ob es nun die Franzosen, wie Grandville und seine Zeitgefährten, oder die Deutschen, wie die Maler Caspar David Friedrich, Moritz von Schwind, der Österreicher Ferdinand Waldmüller, die Dichter Eduard Mörike, Ludwig Uhland oder die verschiedenen Musiker und Komponisten sind — einerlei, der feine, geruhsame Hauch des erstrebten und erlebten stillen Lebensglücks beherrscht sie alle. Und dieses Einfühlen in jene geruhsame Lebensromantik sollte in unserer computergehetzten, wissenschaftlich übersteigerten Zeit von besonderer Bedeutung sein und als unentbehrlicher Wert erkannt werden.
Das gute Veilchen schätz ich sehr…
...es ist gar so bescheiden und duftet schön; doch braucht' ich mehr in meinem herben Leiden! lässt Goethe den gefangenen Grafen sprechen. Das mag vielleicht für unsere Ohren recht eigenartig klingen. Und doch, auch wenn wir nicht in einer solchen Situation sind, spüren wir das Gefangensein im täglichen Stress, in der Unrast und der Unruhe, in die wir nun einmal hineingestellt sind.
Was aber hat das mit dem kleinen Veilchen zu tun? Auf den ersten Blick wohl sehr wenig, aber wenn man die Zeichnung von Grandville genauer betrachtet, wird man leicht zu einem Begriff geführt, den alle Menschen bewusst oder unbewusst suchen und erstreben. Wie geborgen ruht die kleine Maid mit ihren Schwestern unter den alles beschirmenden Veilchenblättern. Geborgenheit und Ruhe fehlt jedem Menschen, es sei denn, erfände in einer stillen Stunde zu sich selbst zurück. Ein altgriechisches Wort heißt: „gnoske se auton“, erkenne dich selbst! Und solches Sich selbst-Erkennen bietet sich kaum woanders besser an als — nun nur bildlich gesehen — in einem Veilchenbusch, und ist er auch noch so klein.
In der Tat verkörpert das Veilchen sowohl als Busch als auch als einzelne Blüte die Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, die beide heute so selten geworden sind. Trotzdem erfreut stets ein Strauß frischgepflückter Veilchenblüten (Viola odorata) durch seinen zarten, süßen Duft, der eigenartigerweise für den Parfümchemiker ein gewisses Rätsel bedeutet. Die Forschung stand oft vor Schwierigkeiten; denn die Riechstoffe waren und sind mitunter nur schwer nachzuweisen bzw. zu isolieren. Man ging bei der Suche nach den Inhaltsstoffen von Viola odorata einen besonderen Weg. Man hatte festgestellt, dass die Duftkörper der getrockneten Iriswurzel (Radix iridis) denen der Veilchenblüten sehr ähnlich sind, wahrscheinlich das gleiche Keton enthalten.
Ohne im einzelnen nun auf die Probleme der Fachwissenschaft einzugehen, sei vielmehr anhand der Zeichnung von Grandville versucht, eine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach einem Ruheplatz zu finden. Kann es einen besseren geben — immer im Sinne der Romantik verstanden - als in einem, wenn auch noch so kleinen Gehäuse, das ein Veilchenbusch bietet? ...zumal erwiesen ist, dass die beiden Stoffe Iron und Jonon im Veilchenblattöl die Geruchsnerven rasch ermüden lassen. Das unterstreicht die Absicht, sich in einer solchen Situation gerade des Veilchens zu erinnern. Im weiteren ist nachgewiesen, dass der Duft bis zu einer leicht narkotisierenden Wirkung reicht. Lässt sich auch keine Narkose im medizinischen-Sinne durch ein Veilchensträußchen bewirken, genügt dieser Effekt dennoch, um in eine geruhsame, harmonisierende Stunde des Entlastetseins und der Erholung eingehen zu können. Schließlich sei nicht unerwähnt, dass, wie all den anderen „Blumengeistern“, die Grandville zusammengefasst hat, auch dem Veilchen eine geringe Dosis erogen wirkender Duftstoffe einverleibt ist. Fasst man das alles zusammen, dann wird man auch erkennen, mit welcher Empfindung Goethe dem gefangenen Grafen diese Worte in den Mund gelegt hat:
„Das gute Veilchen schätz' ich sehr
Es ist gar so bescheiden
Und duftet schön; doch braucht' ich mehr
In meinem herben Leiden!“
Aus dragoco report 01/1979
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